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Coronablog

Wo man noch umarmen darf

Ich kann an keinem Bücherschrank vorbeigehen, ohne davor stehen zu bleiben. Irgendwie mag ich die Vorstellung, dass auf so kleinem Raum so viele Gedanken und Geschichten zusammenkommen.

Sarah Grandjean, Stagiaire Region
Ich kann an keinem Bücherschrank vorbeigehen, ohne davor stehen zu bleiben. Irgendwie mag ich die Vorstellung, dass auf so kleinem Raum so viele Gedanken und Geschichten zusammenkommen. Und ich lese gerne die Buchtitel. Manchmal finde ich einen so toll, dass ich das Buch in die Hand nehmen und durchblättern muss. «Das Geräusch einer Schnecke beim Essen» zum Beispiel. «Wenn Tote baden», «Die Revolution der Ameisen» oder «Die Sehnsucht fährt schwarz».
 
Mir gefällt die Idee, dass die Welt in den Bücherschränken noch in Ordnung ist. Naja, vielleicht nicht gerade in Ordnung, aber immerhin gibt es zwischen den Buchdeckeln noch kein spielverderberisches Corona. Da reisen zum Beispiel die kleine Pari und ihr Bruder Abdullah durch die afghanische Wüste. Vier Freunde verbringen ein Wochenende in einem luxuriösen Ferienhaus auf Sylt. Ein junger Mann baut in den Alpen eine der ersten Bergbahnen und bringt Elektrizität in sein Dorf. In den Geschichten kann man noch reisen, einander umarmen, feiern, nah beieinander und ständig unterwegs sein.
 
Hin und wieder entdecke ich auch Bücher, die ich kenne, und darüber freue ich mich irgendwie. Manchmal erinnern sie mich an etwas. Gestern zum Beispiel habe ich ganz unten in der Ecke zwei Bände von «Sans famille» entdeckt. Da ist mir eingefallen, dass mein Vater meinen Schwestern und mir früher aus diesem Buch vorgelesen hat. Bis zu diesem Moment hatte ich vergessen, dass er uns überhaupt je vorlas.
 
Tatsächlich aber nehme ich nur selten ein Buch aus einem Bücherschrank mit – und von den wenigen, die ich nach Hause brachte, habe ich noch seltener eines auch wirklich gelesen. Denn ich lese schon lieber ein druckfrisches Buch, das noch ganz neu duftet und dessen Buchrücken ich mit einer Mischung aus Skrupel und Vergnügen zum ersten Mal brechen kann. Was meine Faszination für Bücherschränke angeht, so mag ich vor allem die Vorstellung davon, welche Geschichten sich in ihnen verbergen mögen. Aber ich will es gar nicht wirklich erfahren. Lieber lungere ich eine Weile vor den Büchern herum und träume vor mich hin. Auf diese Weise kann ich zumindest in meiner Fantasie mal wieder weit weg reisen, jemanden fest umarmen, eine Nacht durchfeiern oder ständig unterwegs sein.

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